Poetry-Slam-Projekt: Lyrische Auseinandersetzung mit den Themen „Heimat und Flucht“

Anlässlich des schulweiten Ukraine-Tages des Willibald-Gymnasiums am 6. April 2022 führten die Klassen 9a und 9c auf Initiative ihres Deutschlehrers Julius Mayer ein Poetry-Slam-Projekt zum Thema „Heimat und Flucht“ durch. Dabei rezipierten die Schülerinnen und Schüler zunächst einen Poetry-Slam-Vortrag des Künstler-Kollektivs „Keschmesch“, in dem die Fluchtthematik als zeitloses Problem dargestellt wird, das sich in regelmäßigen Zyklen wiederholt.

In dem Vortrag werden die Geschichten zweier Geflüchteter aus Syrien im Jahr 2015 und aus Deutschland im Jahr 1938 verarbeitet, wobei die Erzählstränge zunächst ineinander verwoben sind und erst am Ende aufgelöst werden. Der eindrucksvolle Film, in dem der Lyrik-Vortrag von Video- und Bildmaterial begleitet wird, ist hier verlinkt.

In der Folge beschäftigten sich die Deutschklassen im Unterricht zunächst mit dem Heimatbegriff, wobei die Schülerinnen und Schüler die Bedeutung der Heimat für sich selbst reflektierten. Im Rahmen einer Kreativübung fanden die Lernenden dabei sehr einprägsame Sprachbilder und Vergleiche für ihre individuelle Beziehung zur Heimat:

Heimat ist wie ...

... die Wurzel eines Baumes.
... ein Fels im Meer.
... ein sicherer Hafen.
... ein wärmendes Feuer.
... eine große, weiche Decke.
... ein Regenschirm, der dich schützt.
... ein Schrank voller Essen.
... eine Umarmung.
... ein Rettungsring.
... ein warmes Bett.
... offene Arme an einem kalten Tag.
... ein Fußballspiel mit deinen Freunden.

Die Lernenden setzten sich in einem Schreibauftrag zu den Motiven „Heimat und Flucht“ auch lyrisch mit den Thematiken auseinander. Während das Heimatsgefühl für einen Schüler vor allem in sozialen Gemeinschaften wie z.B. dem lokalen Fußballverein zum Vorschein kommt, so trägt eine andere Schülerin die Heimat immer in ihrem Inneren mit sich:

 

Das Gefühl von Gras bis zu meinen Knien,
Der Geschmack von frisch gepflückten Kirschen,
Der Geruch, den der Regen hinterlässt,
Ich finde mich in diesen Erinnerungen daheim.

Ich ziehe von einem Ort zum anderen.

Der Lärm der großen Stadt,
Die vielen Menschen auf der Straße,
Die Autos, die vorbeirasen.
Und ich bin doch immer noch daheim.

(Autorin: Maria Kammerbauer)

Eine andere Schülerin findet ebenfalls, dass die Heimat sich nicht auf einen bestimmten Ort beziehen muss: Heimat ist vor allem das, was du selbst als Heimat empfindest.

Doch nicht nur das Thema der Heimat fand sich in den lyrischen Texten der Schülerinnen und Schüler wieder, auch das Flucht-Motiv wurde mehrfach beleuchtet. Die Schülerin Celine Reuter hat sogar einen ganzen Poetry-Slam-Text verfasst, wobei sie die Thematik der Flucht explizit mit dem Krieg in der Ukraine verbindet. Ihr Text schließt mit einem Appell:

Das Einzige, was zählt, ist dieser Egoismus
Doch wisst ihr, dass dafür erst ein Mensch sterben muss?
Um Lösungen zu finden, muss man miteinander sprechen
Kommunikation heißt sowas
Das gibt es auch nonverbal, aber ich flehe euch an, bitte nicht so radikal!

(Autorin: Celine Reuter)

Es ist für mich schwer vorstellbar, dort zu sein
Wo Menschen sterben, flehen und weinen
Die Hoffnung stirbt zuletzt" si lautet das Sprichwort
Doch was ihr da macht, das nennt man Mord.

Das Zerstören der eigenen Heimat
Wurde definitiv nicht so vereinbart
Es ist kaum in Worte zu fassen
Kann man nicht einfach jeden in Frieden lassen?

Das sind so Sachen, die ich nicht verstehen kann
Für solche Fragen gibt es auch keinen Fachmann
Letztendlich sind Kriege doch sowieso sinnlos
Dennoch aber nicht schmerzlos.

Das Einzige, was zählt, ist dieser Egoismus
Doch wisst ihr, dass dafür erst ein Mensch sterben muss?
Um Lösungen zu finden, muss man miteinander sprechen
Kommunikation heißt sowas
Das gibt es auch nonverbal, aber ich flehe euch an, bitte nicht so radikal!

Es ist schon sehr traurig, daran zu denken, dass das Spiel „Schiffe versenken” Realität
geworden ist, während man gegenseitig seine Macht misst
"Neuigkeiten in der Tagesschau zu sehen, bringt mir nicht nur Augenschmerzen,
Sondern vielen anderen zerbrochene Herzen

Wisst ihr eigentlich, was die Definition von Krieg ist, oder ist es euch einfach egal?
Ist es so, dann ist es mehr als radial
Die Trauer in den Augen der Menschen
Ist nicht mehr wegzudenken,

Versucht doch einfach mal euch in die Menschen hineinzuversetzen
Statt sie zu verletzen
Ich weiß nicht, was die Mission von diesem Krieg sei
Aber es wäre ein klarer Vorteil
Miteinander zu leben
Und nicht gegeneinander nach Macht zu streben.

Das Einzige, was zählt, ist dieser Egoismus
Doch wisst ihr, dass dafür erst ein Mensch sterben muss?
Um Lösungen zu finden, muss man miteinander sprechen
Kommunikation heißt sowas
Das gibt es auch nonverbal, aber ich flehe euch an, bitte nicht so radikal!

(Autorin: Celine Reuter)

Einen Poetry-Slam-Text zum Thema Flucht hat auch die Schülerin Rebecca Rank verfasst, wobei sie sich hier in die Perspektive eines Flüchtenden aus einer Kriegsregion versetzt hat. In einem Lyrik-Blog greift sie in einem Vorwort das im Unterricht rezipierte Poetry-Slam-Video zunächst mit einem Zitat auf und stellt dann den Bezug zu ihrem eigenen Text her. Ihr Vortrag des folgenden Textes im Unterricht war ein eindrucksvoller Projektabschluss.

(Vor)Wort

»Man konnte nicht bleiben, keinen weiteren Tag mehr. Der nächste Schritt in meiner Stadt ist der letzte Schritt in meinem Land.«
— Keschmesch, Hinter uns mein Land, 2015

Es ist das Jahr 2022, aber zugleich das Jahr 2015, das Jahr 1938. Geschichte wiederholt sich stetig, zeitlose Grausamkeit.

Bilder in den Nachrichten, nur ein Ausschnitt, gerade einmal die Spitze des Eisbergs. Menschen, die aus ihrem Heimatland in andere Länder fliehen müssen, Zuflucht suchen.

Ein Poetryslam zum Thema Zuflucht finden.

 

Triggerwarnung:

Dieser Poetryslam beinhaltet Themen, die für einige Leser*innen triggernd wirken könnten. Wenn es dir mit einem dieser Themen im Moment nicht gut geht, überlege dir bitte, ob du weiterliest. Potenziell triggernde Themen sind:

• Krieg
• Verlust
• Feuer

 

Post scriptum:

• Der Text ist aus Sicht eines Flüchtlings geschrieben, das ist nicht meine Sicht.

• Ich weiß, dass es im Krieg selten Happy Ends gibt und möchte die Grausamkeit des Geschehens hiermit keineswegs verharmlosen oder romantisieren, falls das an manchen Stellen so auf euch wirkt, weist mich bitte darauf hin.

• Kritik & Verbesserungen an Schreibstil und Aufbau sind erwünscht :)

 

(Zu)Flucht

Eine heiße Tasse Tee, abends, bei Feuerschein,
Das Klirren des Schlüssels an der Tür, Vater kommt heim,
Der Duft nach frisch gebackenem Brot
Wird bald zu einer bittersüßen Erinnerung, in tiefster Hungersnot

 

(Heimat)Erinnerungen.

Erste Nachrichten im Fernsehen
Werden als Abschreckung abgetan,
Doch nicht mehr lange, denn bald ist es um unser Land geschehen
Der Krieg beginnt, kommt bald direkt vor uns'rer Haustür an

 

(Vor)Ahnung.

Erste Bomben auf den Straßen,
Menschen, die um Menschlichkeit vergaßen
Entsetzensschreie, Kinderweinen,
Schreckensnächte, die kein Ende zu finden scheinen

 

(unwirkliche) Realität.

Das Schrillen des Feueralarms, nachts um drei,
Verschlafene Gesichter, das Wimmern meiner kleinen Schwester, es riecht nach Rauch und geschmolzenem Blei
Züngelnde Flammen strecken ihre vernichtenden Hände nach uns aus,
Vergebene Versuche, ihren tastenden Fingern zu entkommen,
dann wird alles dunkel - Es ist aus.

 

(Ruß)Schwärze.

Undeutliche Bilder, verschwommen, wie durch eine schmutzige Scheibe,
Verkohlte Balken um mich herum, doch hier in diesem Loch, diesem sicheren Nest inmitten all der Zerstörung, ist es angenehm warm, ich bleibe,
Bleibe, bis ich im Dämmerzustand zwischen Bewusstsein und Bewusstlosigkeit dahintreibe

 

(Erinnerungs)Vergessen.

Der Morgen kommt, kalt und klamm,
Erkenntnis schließt ihre eiserne Faust um mich,
Wie der Wolf die Zähne um ein junges Lamm,
Und ich erinnere mich

 

(Erkenntnis)Lähmung.  

Ich bin allein.
Niemand ist mehr übrig, keiner mehr da,
Unser Haus liegt in Trümmern
In meinen Gedanken höre ich noch immer meine kleine Schwester wimmern

 

(Seelen)Schmerz.

»Ich muss hier weg.«
Ein Entschluss, ein einziger, fester Gedanke, auf den ich mich fokussiere,
Damit ich nicht komplett den Verstand verliere
Ich muss hier weg, denn es ist nicht sicher, dieses Versteck

 

(Aufbruchs)Entscheidung.

Trommelwirbelherzpochen bei jedem Schritt
Lippen formen Gebete,
»Geh mit mir mit«,
Worte, die ich gen Himmel flehe

 

(Letzte)Hoffnung.

Doch selbst, als ich aus der Stadt heraus bin, atme ich nicht auf,
Vierundzwanzig sieben bin ich wach,
Schlaflose Nächte nehme ich in Kauf,
Angst, vor den Alpträumen, die lauern in der Nacht

 

Traum(a).

Grenzüberquerung,
Neues Land, neue Währung,
Dosensuppe mit hartem Brot, warme Decken, heißer Tee in Blechtassen
Vor einer Woche musste ich mein Land verlassen

 

— Nun bin ich hier.

(Zu)Flucht.